Cantienis und Stamms Corona-Tagebücher
Das Aargauer Literaturhaus im Netz
Monica Cantieni und Peter Stamm schrieben für Sie/euch und uns je ein Tagebuch bis 20. Mai (und Dorothee Elmiger bis 20. April).
Hier das ganze Tagebuch von Peter Stamm (19. März bis 20. Mai).
Hier können Sie das Tagebuch von Monica Cantieni nachlesen (bis und mit 19. Mai) - und hier ihren letzten Eintrag vom 20. Mai:
Für gewöhnlich stehe ich früh auf, begleitet von einem immer gleichen Ritual, das in einem Cappuccino gipfelt, mit dem ich mich bereits an den Computer setze. Heute muss mir jedoch über Nacht eine Trägheit in die Knochen gefahren sein, die wohl mit den vielen unerfreulichen Nachrichten zusammenhängt. Sie verfehlen auf Dauer ihre Wirkung nicht. Sie stören den aufrechten Gang, er fällt mir heute schwer. Wut fällt mir schwer: gesunde, gute, wohltemperierte scharfzüngige Wut und der Wunsch, sie einzuspannen, grade so, wie ich die Empathie einspanne, die Phantasie und die Neugier, um nachzudenken, um Literatur daraus zu machen. Vielleicht, weil die Umstände besondere sind. Die Selbstverständlichkeit meines Tuns hat sich nichts verändert. Auch nicht meine Disziplin, nicht, das langsame, stetige Umgraben des Stoffes, das Zutage-Fördern von Figuren und Handlungen, das Abklopfen und Stehenlassen, das Liegenlassen des Gefundenen über Nacht, wo es unter andern Himmeln liegt, wo ich, Kleinkrämerin, die ich bin, tags darauf im Halbschlaf noch den Computer wieder hochfahre, um rechtzeitig bei den Worten zu sein, bevor der Tau fort ist, dieser Wasserfilm auf den Gedanken und Sätzen, von dem es etwas zu konservieren gilt, bevor er verdampft. Und dann das Tageslicht, das hart ist; das Licht, in dem ich verwerfe, was diesem Licht nicht standhält.
Es sind schöne, abenteuerliche Fahrten. Es sind aber auch Fahrten in der Tiefe von «20'000 Meilen unter Meer». Der Druck auf die Nautilus nimmt jetzt merklich zu. Unter nicht pandemischen Umständen können KünstlerInnen ihn gut selber regulieren. Doch nun ist es so, dass wir für eine Weile keine Kontrolle mehr haben über die Tauchtanks, die Regelzellen und Tiefenruder. Wir sind so nicht fähig, aufzutauchen und Luft zu holen oder uns im mindesten auf einer Tiefe zu halten, in der die Wände der Nautilus auf Dauer dem Aussendruck standhalten. Wir laufen auf Batterie, unser Licht läuft auf Batterie, die Luft an Bord könnte knapp werden. Dem Meer spielen wir keine Rolle, es ist, wie es ist, es hat seine Gesetze, aber ihr da oben, ihr Schwimmer und Segler, ihr Fischer, ihr Strandgänger; ihr, die ihr euch freut über die Schätze, die wir bergen, auf euch dürfen wir zählen. Das jedenfalls sagte ich mir heute früh mit der Trägheit in den Knochen und dem Durst nach einem Gedicht von Hilde Domin:
Nicht müde werden
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten
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Monica Cantieni an ihrem Computer.