Musikalische Lesung mit Dominic Oppliger (am Buch) und Anuk Schmelcher (am Harmonium)
Dominic Oppligers Lesung von «giftland» zusammen mit Anuk Schmelchers Harmoniumspiel thematisiert vieles und noch mehr, aber unter anderem, dass Zeitwahrnehmung so relativ sein kann wie etwas relativ nur sein kann: dauert das schon lange oder hat es noch gar nicht richtig angefangen? Da ist sich auch «giftland»-Protagonist Sämi bald nicht mehr sicher. Relativ sicher hingegen ist, dass mensch für die Erfahrung relativer Zeitwahrnehmung nicht zwingend an eine musikalische Lesung eines relativ monoton vorgetragenen Mundarttextes in Kombination mit einem relativ verrückt obertönenden Harmonium gehen müsste. (Aber mensch könnte). Und würde mensch es tun, böte sich Gelegenheit zu bezeugen, wie die zwei Klangquellen Oppliger und Schmelcher entspringen und zu einem gleichzeitig schnell und langsam fliessenden Strom werden. Ein Strom, der Zuhörende mitreisst, sie gemütlich treiben und unvorsichtig werden und in Strudel geraten lässt, sie hinabsaugt und durch die unterirdischen Höhlen und durchfluteten Gänge von Sämis Tour-Martirium schleudert, bevor sie wieder unversehens zurück an die Oberfläche gespuckt werden. Zum Verschnaufen. An die Sonne, in den strömenden Regen. Zum Luftschnappen. Unter eine mittelländische Wolkendecke. Wieviel Zeit ist vergangen? Wann hat es angefangen? War es eine kurze oder eine lange Stunde? War es überhaupt eine?
«giftland» ist einerseits die in Mundart erzählte Geschichte des Schlagzeugers Sämi, der mit einer Schweizer Rockband durch die USA tourt, andererseits eine tragikomische Demontage des amerikanischen Traums. Sämi, dem das ersehnte «On the road» bald zur schalen Routine wird, flüchtet sich auf der Rückbank des Tourvans in Wahrnehmungs- und Gedankenloops. Und während der Van Tag um Tag über Highways rast, ist für Sämi bald nicht mehr klar, ob die Räder vorwärts oder rückwärts drehen müssten, damit er irgendwann noch vom Fleck kommt.
Literaturpodcast “einsiebendrei” (Folge 39) mit Marion Regenscheit, Christoph Keller, Lucien Haug zu «giftland».
Dominic Oppliger (*1983) lebt in Zürich, ist Vater von zwei Kindern und tätig als Autor, künstlerischer Berater und Dozent und Coach für Geschichtenerzählen. Er studierte Soziale Arbeit an der HSLU (Bachelor 2011) und Transdisziplinarität in den Künsten an der ZHdK (Master 2017). Als Musiker veröffentlichte er 2005-2015 zahlreiche Alben mit verschiedenen Formationen (u.a. Doomenfels). 2018 erschien die Mundartnovelle «acht schtumpfo züri empfernt», 2023 der Mundartroman «giftland» (beide im Verlag Der gesunde Menschenversand). 2017-2023 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ZHdK im Departement Kulturanalysen und Vermittlung, wo er Seminare und Workshops zu kreativem Schreiben durchführte sowie zusammen mit der Künstlerin Delphine Chapuis Schmitz während 6 Jahren die Textwerkstatt des Master Transdisziplinarität leitete. www.dominicoppliger.ch
Anuk Schmelcher (*1999) ist Multiinstrumentalistin, Produzentin und Klangkünstlerin, lebt in Zürich und stammt ursprünglich aus Biel. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Praxis des Zuhörens, die sie in einer Vielzahl von Formaten und Ansätzen erforscht. 2022 erschien die EP «Can you hear the river» (Hummus Records), die sie mit Stimme, Schlagzeug, Harmonium, Klavier und Gitarre einspielte und aufnahm. Mit dem Song «Power» gewann sie am M4Music den «Demo of the Year 2023»-Award. Als Schlagzeugerin ist sie an verschiedenen Projekten beteiligt, derzeit u.a. im Trio Obliecht (Debut EP «Obliecht», April 2023). Sie hat einen Bachelor in Soundarts (HKB Bern 2023) und arbeitet als freischaffende Set-Tönlerin für Film.